Erinnerung an ein vergessenes Ideal

CULTURMAG

Manchmal stolpert man in die Lektüre eines Buches hinein. Vielleicht hätte ich das Buch „Adel des Geistes“ nie gelesen, wenn der Autor Rob Riemen nicht ein im besten Sinne neugierig machendes Widmungszitat an den Anfang gesetzt hätte. „Wer wirklich wissen will, wie es um diese Welt bestellt ist, muß mindestens einmal sterben. Und da dieses das Gesetz ist, ist es besser, jung zu sterben, wenn man noch alle Zeit vor sich hat, sich wieder aufzurappeln und aufzuerstehen.“ Das Zitat hat Riemen dem wunderbaren Roman „Die Gärten der Finzi Contini“ von Giorgio Bassani entnommen. Und wer sich auf Bassani beruft, hat immer etwas Kluges zu sagen.

Was aber soll man sich unter einem Buch vorstellen, in dessen Widmung es als vorteilhaft hingestellt wird, jung zu sterben, um dann nach langer Zeit wieder „aufzuerstehen“? Man wird neugierig. Es folgt eine Einleitung – der Autor nennt sie stilvoll ein Präludium –, die die Neugierde weiter anstachelt. „Die wichtigsten Ereignisse im Leben plant man nicht, sie widerfahren einem.“ Und für den Autor war eines dieser das Leben prägenden Ereignisse die Begegnung mit Elisabeth Mann Borgese, der jüngsten, bis ins hohe Alter hinein für alles Neue aufgeschlossenen, gebildeten, liebenswürdigen Tochter von Thomas Mann.

Riemen und Elisabeth Mann trafen sich Anfang November im Jahre 2001 in New York, also knapp zwei Monate nach den historischen Terrorangriffen auf die Twin Towers. Frau Mann bringt zum Dinner auch den sehr bescheidenen und zurückgezogen irgendwo in New York lebenden Pianisten und Komponisten Joseph Goodman mit. Und während des Gesprächs, das ganz im Schatten des erlebten Bösen während der bereits länger zurückliegenden Nazi-Zeit und des noch ganz nahen Angriffs auf die Twin Towers steht, holt Goodman etwas verlegen einen Stapel Notenblätter aus seiner Tasche. Das Werk, das er hier den beiden anderen präsentiert, trägt den Titel „Nobility of Spirit“. Der Text dieser Kantate für Solo, Chor und Orchester wurde dem großen Loblied von Walt Whitmann auf „Freiheit, Demokratie, Amerika und die Poesie“ entnommen. Nobility of Spirit wiederum bezieht sich direkt auf ein von Thomas Mann immer wieder beschworenes Leitmotiv für ein anständiges, an großen Idealen und (bildungs-)bürgerlichen Traditionen orientiertes Leben, den „Adel des Geistes“.

Diese einmalige Begegnung mit Elisabeth Mann und Joseph Goodman gab Rob Riemen den Anstoß für diese im Umfang eher bescheidene, im Gehalt aber bedeutende, in ihrem Stil leicht elegant geschriebene Erinnerung an ein „vergessenes Ideal“. Natürlich widmet Riemen besonders Thomas Mann, seinem auf jeder Seite spürbaren und bewunderten geistigen Vorbild ein umfangreiches Kapitel. Er sei es gewesen, der nach vielen Irrungen und Wirrungen („Betrachtungen eines Unpolitischen“) zu einem der bleibenden großen Repräsentanten des europäischen Geistesadels geworden sei. „Mein Vater“, zitiert Riemen Elisabeth Mann, „sprach einmal vom Adel des Geistes als einzigem Korrektiv der menschlichen Geschichte.“ Und diesem Lebensideal will Riemen „eine neue Stimme geben“, die auch heute noch gehört wird, die es wert ist im Geplapper der Zeit nicht überhört zu werden. In mal kürzeren, mal längeren Exkursen zitiert Riemen aus den Briefen Vincent van Goghs, aus den Schriften der großen Griechen Platon und Sokrates, aus Zeugnissen von Arthur Köstler, Albert Camus, Manès Sperber, André Malraux gegen den totalitären Kommunismus und erinnert in einem grandiosen Schlusskapitel an den in einem faschistischen Gefängnis in Rom gefolterten und ermordeten Leone Ginzburg.

„Kultur“, weiß Ginzburg, „ist die Sammlung der vielen Wege, die die Menschen bei ihrer Suche nach der Wahrheit über sich und das menschliche Dasein beschreiten können. Aus Treue zu dieser Wahrheit machte er es zu seiner Lebensaufgabe, die europäische Kultur weiterzugeben und zu ihr beizutragen.”

Auch Rob Riemen hat es sich zu einer Art Lebensaufgabe gemacht, gegen allen konsumistischen, nur auf Cash & Carry hin orientierten Zeitgeist die vergessenen Ideale aus der „Asche ausgebrannter Sinngebung“ (Paul Celan) wieder zum Glühen zu bringen. Maßgeblich hat er im niederländischen Tilburg ein eigenes Institut gegründet, das sich eben dieser Wiederbelebung des europäischen Geistesadels verschrieben hat. Die das Buch und das Institut leitenden Ideale eines alten europäischen, der Welt zugewandten Bürgertums verdienen in diesen kargen Zeiten des Geistes mehr Interesse. Sie repräsentieren das „bessere Europa“, das heute in dem schrillen Aufbegehren aggressiver Populisten fast vollkommen an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt worden ist.

Man kann mit guten Gründen bezweifeln, dass man, wie Riemen vielleicht etwas euphorisch hofft, ein Ideal wiederbeleben kann, das in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts untergegangen ist. Schmerzhaft viele seiner großen Repräsentanten sind in den Lagern Hitlers oder den Gulags von Stalin elendig umgekommen. Wer will kann die oft verschwimmenden Grenzen zwischen Zitaten der von dem Autor geschätzten Intellektuellen und seiner eigenen Meinung kritisieren. Auch eine begründete Gegenposition zu den stark von George Steiner geprägten Argumenten des Autors über den Untergang der alten europäischen Geisteskultur ist denkbar. Warum aber diese Erinnerung an ein „vergessenes Ideal“ in einigen Rezensionen des deutschsprachigen Feuilletons so hämisch und flapsig heruntergeputzt wird, ist schwer verständlich, ja ärgerlich. Ein „verschwiemeltes Geistergespräch“ sei sie, so lesen wir in einer Rezension der Süddeutschen Zeitung und fast gleichlautend auch in der NZZ. Dem „im fünften Lebensjahrzehnt stehenden Debütanten liegen Kultur und Humanität am Herzen“. Was daran kritisierenswert sei, erfährt der Leser dieser schnell dahin gepinselten Rezension leider nicht. Gern lesen habe noch nichts mit geistvollem Schreiben zu tun, wird man dann weiter von dem Rezensenten belehrt, der das von ihm in die Ecke geschmissene Buch vermutlich nur sehr oberflächlich durchgeblättert, aber sicherlich nicht gelesen hat. Dann wird dem Autor noch en passant vorgeworfen, dass er in seiner niederländischen Heimat ein Kulturinstitut gegründet habe. Und umtriebig sei er auch noch. Buch zugeklappt. Ungenügend. Setzen.

Mit einiger Verspätung ist dann immerhin noch eine Besprechung des Buches im Deutschlandradio Kultur (von Ariadne von Schirach) gesendet worden, die das Buch mit einem großen intellektuellen Gewinn gelesen hat. Es handele sich um einen „hinreißenden Essay“ und ein „furioses Buch“, das einen „ebenso bewegenden wie aktuellen Appell an jeden Einzelnen“ enthalte, die „Freiheit des Denkens, des Handelns und des Sprechens“ zu verteidigen. Verstört über so viel Arroganz und intellektuelle Faulheit einzelner Rezensenten im deutschsprachigen Feuilleton nimmt man dann staunend zur Kenntnis, dass dieser angeblich so belanglos dahinschwadronierende Autor in Italien ein Echo erhalten hat, das dem der Autorin des Beitrags aus dem Deutschlandradio entspricht.

Dort wurden in konservativen, liberalen und linken Tageszeitungen dem Autor und seinem Buch zwar keine kritiklosen Lobeshymnen gewidmet, aber jeder Rezensent hat es dort wenigstens gelesen, bevor er seinen Text der jeweiligen Redaktion übermittelt hat. Dass dem Autor „Kultur und Humanität am Herzen liegen“, wurde dort nicht spöttisch, sondern mit Sympathie zur Kenntnis genommen.

Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet in dem von Konsumismus und „Berlusconismus“ so heruntergekommenen Italien offensichtlich immer noch Repräsentanten einer alten europäischen Bildungskultur anzutreffen sind, der man sich im deutschsprachigen Feuilleton nur noch mit Fingerspitzen, Spott und böser Häme nähert. Man solle, so zitiert Riemen an einer Stelle den polnischen Nobelpreisträger Czeslaw Milosz, „die Gesellschaft von Personen meiden, die das Dasein mit ihrem Sarkasmus herabwürdigen und das Nichts verherrlichen“. Nach der Lektüre einiger Rezensionen des Buches von Riemen versteht man diesen Satz noch besser.

Carl Wilhelm Macke
12 Januar 2011